Kribbeln, Taubheitsgefühl, Schmerzen – eine Polyneuropathie kann für Krebspatienten während und nach der Chemotherapie zur belastenden Nebenwirkung werden. Doch was genau verbirgt sich hinter dem Begriff? Welche Symptome treten auf und was kann man dagegen tun?
In unserem Interview mit Frau Dr. Katrin Benzler, erfahren Sie mehr über Ursachen, Diagnose und Behandlungsmöglichkeiten der Chemotherapie-induzierten Polyneuropathie.
Dr. med. Katrin Benzler
Fachärztin für Hämatologie und Onkologie, Bereichsleitung Medizinische Onkologie am Universitätsklinikum Tübingen
Karin Strube
Mitgründerin und geschäftsführende Gesellschafterin der Strube Stiftung
Definition und Symptome:
Diagnose:
Ursachen und Dauer:
Prävention und Therapie:
Schutzmaßnahmen und Tipps:
Poly bedeutet an verschiedenen Stellen und Neuropathie eine Schädigung der Nerven oder eine Veränderung an den Nerven.
Polyneuropathie bedeutet, dass es an mehreren Bereichen im Körper zu Problemen kommt, weil die Nerven geschädigt sind. Man hat zum Beispiel das Gefühl von Schmerz oder Kribbeln, wie Ameisenlaufen. Oder als ob der Arm eingeschlafen ist. Oder ein verändertes Kälteempfinden. Es gibt Patienten, die zum Beispiel immer das Gefühl von kalten Füßen haben, dabei sitzen sie direkt neben dem warmen Ofen.
Es gibt auch Polyneuropathien im Rahmen von anderen Erkrankungen, wie zum Beispiel des Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit). Aber hier geht es um die durch Chemotherapie bedingten polyneuropathischen Veränderungen (Nervenbeschwerden).
Polyneuropathie in dem Sinne nicht, aber es kann durch Operationen zu Verletzungen von Nerven kommen, die dann auch Ausfälle des Fühlens in einem gewissen Bereich nach sich ziehen können. Wenn bei einem Schnitt kleine Nerven durchgetrennt werden, kann im Bereich der Operationsnarbe zum Beispiel schlechteres Gefühl oder Empfinden bestehen. Eine Strahlentherapie ist manchmal auch so konzipiert, dass man Bereiche bestrahlt, in denen wichtige Nervenstrukturen durchlaufen, die dann gewisse Schäden erleiden können. Das wird aber nicht als Polyneuropathie gewertet. Hier wird nur die Polyneuropathie aufgrund einer Chemotherapie betrachtet.
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Mehr InformationenDie Ausprägung der Symptome hängt von den Medikamenten ab, die man für die Chemotherapie verwendet. Es gibt z. B. platinhaltige Präparate. Diese machen häufig das Gefühl dieses Kribbelns. Patienten berichten, wenn sie Dinge aus dem Kühlschrank herausnehmen, dass sie das Gefühl des Ameisenlaufens haben. Oder sie fühlen schlecht, wo der Fuß ist und laufen deshalb etwas unsicher.
Dann gibt es noch den Bereich der motorischen Neuropathie. Einfache Bewegungsabläufe sind behindert, zum Beispiel bei der Bedienung des Handys, dass man die Tasten nicht gut trifft. Oder es bereitet Schwierigkeiten den Schlüssel ins Schlüsselloch einzufädeln.
Bei anderen Präparaten gibt es die Problematik, dass man häufiger Geschirr fallen lässt, weil das Gefühl gestört ist.
Zum Thema Kälte: Spürt man die Kälte trotz des Ameisenlaufens oder spürt man die Kälte gar nicht? Das ist ein Kribbeln, was für die Patienten richtig schmerzhaft sein kann. Man kann sich Handschuhe neben den Kühlschrank legen, um die kühlen Sachen aus dem Kühlschrank herausnehmen zu können, ohne diese Beschwerden zu haben.
Auch das ist medikamentenabhängig. Es gibt Präparate, die dafür sorgen, dass eine gewisse Schwerhörigkeit (vor allem für hohe Töne) auftreten kann. Ein Ohrgeräusch im Sinne eines Tinnitus kann sehr belastend für die Patienten sein. Deshalb wird bei der Verabreichung dieser Präparate empfohlen einen Hörtest zu machen, bevor man mit der Chemotherapie beginnt, um einen Ausgangsbefund zu haben, weil das für die Patienten manchmal auch sehr schwer einzuordnen ist. Hören Sie schlechter oder nicht? Mit dem Hörtest hat man objektive Daten.
Beim Sehen hat man seltener Probleme durch die Chemotherapie. Da gibt es häufiger Nebenwirkungen vom Kortison, was häufig verabreicht wird, um eine Chemotherapie besser zu vertragen. Die Augenlinse macht gewisse Probleme, so dass zum Beispiel scharf sehen schwerfällt.
Krebspatienten sind während oder nach der Therapie mit vielen unangenehmen Empfindungen konfrontiert: Kopfschmerzen, Magenschmerzen, Rückenschmerzen. Zählen diese auch zu dem Thema Polyneuropathie?
In der Regel sind es andere Baustellen, aber auch hier gibt es manche Präparate, die das vegetative Nervensystem beeinflussen und schädigen können. Zum Beispiel kann der Magen den Speisebrei nicht so gut weitertransportieren oder es tritt Inkontinenz auf, was sehr belastend sein kann.
Zunächst geht es um die Anamnese, sprich die Befragung der Patienten. Haben die Patienten Symptome? Verspüren sie dieses Kälteempfinden, das Ameisenlaufen? Haben sie Schmerzen oder vielleicht sogar Muskelkrämpfe? Das ist der erste Schritt. Wenn es da Hinweise gibt, könnte man zum Beispiel die Nervenleitgeschwindigkeit in einer neurologischen Abteilung messen lassen. Dazu werden Elektroden über den entsprechenden Nerven platziert und die Nervenleitgeschwindigkeit gemessen.
Es gibt auch am Patienten direkt anwendbare Methoden, um zu sehen, ob es einen Hinweis für eine Polyneuropathie gibt. Die Stimmgabel ist eines der Werkzeuge der Neurologen, um zu schauen, ob eine Polyneuropathie vorliegt. Diese wird in Vibration versetzen und auf ein Gelenk gehalten. Die Auswertung erfolgt anhand von Skalen, wenn die Vibration nicht mehr gespürt wird.
Reflexe zu überprüfen ist eine weitere Möglichkeit. Hier kommt der klassische Reflexhammer zum Einsatz, den Internisten aber vor allem auch Neurologen nutzen.
Mit Kälte/Wärmestäbchen ist es möglich eine Information zu bekommen, ob ein Wärme- oder Kälteempfinden vorhanden ist.
Anhand Mikrofilamente kann man überprüfen, ob überhaupt ein Gespür vorhanden ist.
Wenn jemand stark betroffen ist von einer Polyneuropathie würde er diese Dinge sehr wenig spüren. Es gibt immer wieder Patienten, die bei dem Stimmgabeltest die Vibration nicht spüren. Oder die überprüften Reflexe fallen aus. Dann wird Kontakt mit den neurologischen Abteilungen aufgenommen.
Wichtig: Bei einer Polyneuropathie ist nicht die Frage wie man empfindet oder fühlt, sondern es ist faktisch der Nerv geschädigt. Es ist eine objektive Erkrankung und es gibt abhängig von den Präparaten die Schädigung an verschiedenen Orten des Nervs. Einige Präparate schädigen eher die Nervenknoten, andere Präparate die langen Nerven und teilweise werden auch die sogenannten Isolierungen geschädigt, so dass man wirklich Missempfindungen hat. Diese drei unterschiedlichen Sorten der Schädigung machen unterschiedliche Symptome verursacht durch unterschiedliche Präparate.
Ganz einfache Dinge, wie zum Beispiel den Patienten laufen lassen und schauen, wie das Gangbild ist oder auf die Zehenspitzen stellen, um zu schauen, ob die Kraft da ist und die Nerven sozusagen die Signale dafür ausreichend übermitteln.
Wenn ein Patient von neuropathischen Beschwerden oder Gefühlsstörungen berichtet, ist es sinnvoll diese Tests zu machen. Aber es ist tatsächlich so, dass sie im klinischen Alltag nicht jedes Mal durchgeführt werden.
Chemotherapeutika sind Substanzen, die in höherer Dosierung Zellen zerstören oder schädigen sollen. Das ist der Sinn der Chemotherapie. Und Nervenzellen werden teilweise auch geschädigt, die Nervenkörper oder die langen Nervenstränge von den Zellen (Axone) oder auch die Isolierschicht um die Nerven (Schwanschen Zellen). Zudem kann es bei der Übertragung zu Defekten kommen, wenn ein Nerv ein Signal an einen weiteren Nerv gibt.
Gehen die Schädigungen auch wieder weg oder bleiben sie bestehen? Oder gibt es eine Sorte, die weggeht und eine, die bleibt?
Es gibt Medikamente, die schon während des Verabreichens Probleme machen können, zum Beispiel manche platinhaltigen Medikamente. Wenn diese über eine Infusion in den Arm verabreicht werden, kann es sogar sein, dass während oder kurz nach der Verabreichung Missempfindungen oder Schmerzen am Arm auftreten können. Das ist für die Patienten teilweise so unangenehm, dass man abbrechen muss. Deshalb wird häufig ein Port empfohlen.
Die Beschwerden können kurz nach der Chemotherapie auftreten. Es gab dramatische Fälle im Winter, dass Patienten das Haus verlassen haben und durch die kalte Luft das Gefühl von Atemnot bekommen haben. Wieder diese Kälteempfindlichkeit. Unerfahrene Assistenten sind davon ausgegangen, dass es sich um eine schwere allergische Reaktion handelt. Dabei war das eine Nebenwirkung der Chemotherapie im Sinne einer Neuropathie. Diese Atemnot ist eine gefühlte Atemnot. Patienten berichten auch, dass der Mund ganz unangenehm ist, wenn sie ein Eis essen und können vorübergehend nur warme Getränke zu sich nehmen, bis sich die Symptomatik gebessert hat.
Häufig ist es so: Je häufiger eine Chemotherapie verabreicht wird, desto mehr treten diese Symptome auf und desto länger dauert es, bis sie wieder verschwinden. Und es kann leider auch sein, dass diese Beschwerden langfristig bestehen bleiben. Diese Patienten erleiden eine chronische Schädigung durch die Chemotherapie. Oft schafft der Körper eine gewisse Regeneration, aber leider gibt es auch Grenzen.
Bei manchen Patienten werden die Beschwerden nach einem halben oder nach einem Jahr wieder besser werden. Das liegt daran, dass die Nerven wieder neu wachsen können und die Funktion des geschädigten Nervs übernehmen können. Aber häufig ist es so, dass nicht die komplette Symptomatik verschwindet und eine dauerhafte Problematik bestehen bleiben kann.
Wenn sich die Neuropathie nach einem halben Jahr nach Beenden der Behandlung weiter verschlechtert, sollte man hellhörig werden. Dann muss man davon ausgehen, dass andere Ursachen zu suchen sind und eventuell nicht alles auf die Chemotherapie zurückzuführen ist. Manchmal hat man auch zwei Erkrankungen, zum Beispiel einen Vitaminmangel oder eine Zuckerkrankheit, die auch diese Nervenschädigung hervorruft. Deshalb darf man sich nach diesem halben Jahr nicht damit zufriedengeben, dass der Patient irgendwann seine Chemotherapie hatte, sondern muss gezielt schauen, ob noch eine andere Ursache zu finden ist.
Dann gibt es noch den sogenannten Coasting Effekt: Gewisse Präparate haben die Eigenschaft, dass nach Absetzen der Chemotherapie-Medikamente, die Polyneuropathie noch bis zu drei Monate schlechter werden kann. Deshalb ist es so wichtig, die Patienten jedes Mal zu fragen: Haben Sie Beschwerden? Und für die Patienten ist ganz wichtig davon aktiv zu berichten, auch wenn Sie nicht explizit gefragt werden.
Es ist sehr schwierig, vorbeugend etwas zu machen, da es keine bestimmten Präparate gibt, die man einsetzen kann.
Die Patienten sollten immer befragt werden, ob Symptome bestehen. Wenn Symptome bestehen, muss man über die Dosierung der Chemotherapie nachdenken, gegebenenfalls Nutzen und Risiko abwägen (Nebenwirkungen).
Wenn die Medikamente in ihrer Dosis reduziert werden, gibt es für bestimmte Medikamente Dosierschemata, die man anwenden kann. Bei anderen Präparaten ist das ein bisschen Erfahrungssache, wie viel des Präparates man noch geben kann und bei Kombinations-Chemotherapien ist es manchmal sogar so, dass man dieses nervenschädigende Präparat komplett weglassen muss, weil sonst zu große Dauerschäden eintreten könnten.
Das muss man gut abwägen. Häufig gelingt es, auch mit einer reduzierten Dosierung die Krebserkrankung weiter ausreichend zu behandeln. Hier ist das Gespräch zwischen Patient und Arzt wichtig, damit offen über Prioritäten gesprochen werden kann.
Zudem besteht auch die Möglichkeit, die Präparate zu wechseln, so dass man häufig eine Lösung findet, die dafür sorgt, dass die Polyneuropathie nicht weiter voranschreitet, aber trotzdem eine ausreichende Kontrolle der Tumorerkrankung besteht.
In den Phasen, in denen sich die Patienten gut genug fühlen, sollten sie sich unbedingt auch bewegen. Sei es ein Spaziergang, Krafttraining, Balanceübungen, Krankengymnastik oder Sportgruppen (Rehasportgruppen).
Was auch positiv aber nicht 100% wissenschaftlich belegt ist, sind Bohnenbäder. Ein Gefäß wird mit trockenen Bohnen oder Linsen gefüllt und diese versucht man mit den Händen zu spüren. Das geht natürlich nur, wenn die Haut in Ordnung ist und man keine wunde Haut an den Händen hat. Bei gesunder Haut wirkt sich das relativ positiv aus. Einfach die Linsen, Erbsen oder Bohnen spüren und gymnastische Übungen in diesen Bädern machen.
Weiterhin körperlich fit bleiben, sich bewegen. Häufig wird den Patienten eine Reha oder Anschlussheilbehandlung angeboten, was sich häufig sehr positiv auswirkt, um die alte Fitness wieder zu bekommen oder etwas fitter zu werden.
Viele Patienten stehen noch im Arbeitsleben und wenn das für die Patienten wichtig ist, vielleicht Arbeitsversuche machen. Das ist häufig damit verbunden, dass man sich körperlich mehr bewegt und die ganze Breite vom Ausdauersport über Kraftsport bis Yoga ausnutzt, um die Muskulatur zu stärken.
Einfach irgendwelche Vitamine einzunehmen, ist fraglich. Aber wenn anhand einer Blutkontrolle überprüft wird, ob Mangelzustände vorliegen, können diese Vitamine gezielt ersetzt werden.
Erst sollte geklärt werden, woher der Schmerz kommt. Ausgeschlossen werden sollte, dass der Schmerz von einem Tumor oder Rezidiv verursacht wird. Es gibt natürlich Schmerzen im Rahmen der Chemotherapie induzierten Polyneuropathie. Man versucht diese mit den erwähnten Präparaten positiv zu beeinflussen. Aber manche Patienten haben so starke Schmerzen, da besteht die Möglichkeit der Einnahme von Medikamenten aus der Opiat-Reihe.
Häufig kann sich die Polyneuropathie im Laufe der Zeit wieder bessern und dann ist es auch möglich, diese Präparate wieder abzusetzen. Das heißt aber bei Opiaten nicht, dass man keine Beschwerden mehr hat und sie dann gleich zur Seite legt, sondern die sollte man wirklich langsam ausschleichend absetzen, sonst kann es zu Problemen kommen. Und das bitte in Absprache mit dem behandelnden Arzt.
Wenn das Wärmeempfinden gestört ist, sollte man bei einem Bad vorher die Temperatur des Badewassers messen. Nicht dass es zu Verbrühungen kommt. Oder die berühmten Handschuhe, damit man nicht dieses unangenehme Ameisenlaufen hat, wenn man etwas Kaltes aus dem Kühlschrank nimmt.
Wenn die Motorik (das Laufen) durch neuropathische Beschwerden beeinträchtigt ist, sollte man die Wohnung oder das Haus auf Stolperfallen anschauen, Teppiche zumindest vorübergehend entfernen und Stufen eventuell optisch kennzeichnen, damit man nicht stolpert und hinfällt.
Diese Patienten würden in den neurologischen Abteilungen vorgestellt werden, mit der Frage, ob man doch eine medikamentöse Therapie machen kann, um die Beschwerden zu lindern oder weiter zu verifizieren. Natürlich geht es auch darum zu klären: Gibt es andere Ursachen, die man vielleicht zusätzlich behandeln muss, um die Polyneuropathie im Verlauf positiv zu beeinflussen?
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